Die Patientenakte und Art. 15 (Abs. 3) DS-GVO
A. Einleitung
630g Abs. 1 BGB gibt dem Patienten einen Anspruch auf Einsicht und Kopie seiner Patientenakte. Er kann gem. § 630g Abs. 2 BGB auch elektronische Abschriften von seiner Akte verlangen. Seit dem Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) am 25.05.2018 hat eine betroffene Person, also derjenige, über den Informationen, die sich auf ihn als identifizierte oder identifizierbare Person beziehen (Art. 4 Nr. 1 DS-GVO) gem. Art. 15 DS-GVO verschiedene Ansprüche gegen den Verantwortlichen, also denjenigen, der über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von seinen personenbezogenen Daten entscheidet (Art. 4 Nr. 7 DS-GVO). In welchem Verhältnis stehen die Ansprüche des § 630g BGB und des Art. 15 GS-VO? Kann ein Patient auch über die DS-GVO an seine Patientenakte gelangen? Kann er auch eine Kopie seiner Daten verlangen und wenn ja, wer hat die Kosten zu tragen?
B. Anwendungsbereich des Art. 15 DS-GVO
Dass die Daten aus der Patientenakte (§ 630f Abs. 2 BGB) in den Anwendungsbereich des Art. 15 DS-GVO fallen, lässt sich unschwer aus dem Erwägungsgrund (EG) 63 DS-GVO herauslesen. Da heißt es in Satz 2, dass betroffene Personen auch ein Auskunftsrecht über ihre eigenen gesundheitsbezogenen Daten, etwa Daten in ihren Patientenakten, die Informationen wie beispielsweise Diagnosen, Untersuchungsergebnisse, Befunde der behandelnden Ärzte und Angaben zu Behandlungen oder Eingriffen enthalten haben. Was zu gesundheitsbezogenen Daten zählt, ist zusätzlich umfassend in Art. 4 Nr. 15 und EG 35 DS-GVO geregelt. Da die weit überwiegende Anzahl an Daten aus der Patientenakte sich auf den Patienten beziehen, also personenbezogen sind, sind diese vom Anwendungsbereich des Art. 15 DS-GVO umfasst.
C. Voneinander unabhängige Anspruchsgrundlagen
I. 15 Abs. 1 DS-GVO
Art. 15 Abs. 1 DS-GVO beinhaltet in Hs. 1 einen Anspruch auf Verarbeitungsbestätigung, also darauf, dass jede Person in Erfahrung bringen darf, ob, zum Beispiel bei einer Arztpraxis, personenbezogene Daten von ihm verarbeitet werden. Sofern dies der Fall ist, hat der Betroffene nach S. 2 einen Anspruch auf weitere Informationen, beispielsweise wie lange die Daten bei dem Verantwortlichen gespeichert werden sollen, Art. 15 Abs. 1 lit. d. Die Rechte aus Art. 15 Abs. 1 DS-GVO können nur gem. Art. 23 Abs. 1 lit. i DS-GVO durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten beschränkt werden, sofern diese den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achten und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellen, um den Schutz der betroffenen Person oder der Rechte und Freiheiten anderer Personen sicherzustellen. Der Anspruch steht nicht in Konkurrenz mit § 630g BGB und kann damit unabhängig davon geltend gemacht werden.
II. 630g Abs. 1 S. 1 BGB (Einsichtsrecht in die Patientenakte)
630g Abs. 1 S.1 BGB statuiert auch ein bloßes Einsichtsrecht in die Patientenakte. Also das tatsächliche Ansehen der Originalakte in der Praxis oder dem Krankenhaus, dem Ort der Aufbewahrung. Ein solches Einsichtsrecht sieht die DS-GVO zwar nicht vor, die Bedeutung des Einsichtsrechts hält sich trotzdem in Grenzen, da man durch die Herausgabe von Kopien (Art. 15 Abs. 3 DS-GVO) auch eine „Einsicht“ erhält. Der Anspruch kann aus erheblichen therapeutischen Gründen oder wegen erheblicher Rechte Dritter gem. § 630g Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB versagt werden.
III. 630g Abs. 3 BGB
Ein weiter nicht mit der DS-GVO in Konkurrenz stehender Anspruch ist § 630g Abs. 3 BGB, der ein postmortales Einsichtsrecht ermöglicht.[1]
D. Konkurrierende Anspruchsgrundlagen
Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 15 Abs. 3 S. 1 / 3 DS-GVO in Konkurrenz zu § 630g Abs. 1 S. 1 / Abs. 2 S. 1 BGB
Gem. Art. 15 Abs. 3 S. 1 DS-GVO hat der Verpflichtete eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung zu stellen. Grundsätzlich sind die Informationen der betroffenen Person gem. Art. 12 Abs. 1 S. 1 DS-GVO „zu übermitteln“. Gem. EG 63 S. 4 DS-GVO hat der Verantwortliche einen Fernzugang zum direkten Zugang der personenbezogenen Daten des Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Möglich ist nach Art. 15 Abs. 3 S. 3 DS-GVO auch die Zurverfügungstellung in einem gängigen elektronischen Format nach entsprechendem Antrag der betroffenen Person. Ein solches ist beispielsweise ein PDF-Dokument.[2] Die aufgezeigten Möglichkeiten sprechen jedenfalls dafür, dass es sich hier wohl um eine Schickschuld des Verantwortlichen handelt.[3] Die Übermittlung muss hier zudem gem. Art. 12 Abs. 1 DS-GVO in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache stattfinden. Der Anspruch auf eine Kopie der Daten aus Art. 15 Abs. 3 DS-GVO wird neben der Einschränkung durch Rechtsvorschriften nach Art. 23 Abs. 1 lit. i DS-GVO zusätzlich durch Art. 15 Abs. 4 DS-GVO beschränkt, ebenfalls zur Sicherung der Rechte und Freiheiten anderer Personen.
Nach dem Wortlaut des § 630g Abs. 1 S. 1 BGB wird nur ein Einsichtsrecht gewährt. Systematisch würde es aber keinen Sinn ergeben, nicht auch ein Recht auf Kopie zu gewähren, da § 630g Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 811 Abs. 2 S. 1 BGB die Kostentragungspflicht dem Patienten auferlegt. Würde § 630g Abs. 1 S. 1 BGB nur ein bloßes Einsichtsrecht statuieren, würde es dieser Regelung nicht bedürfen, da eine Einsicht in die Patientenakte keine Kosten verursacht. Auch hier gibt es gem. § 630g Abs. 2 S. 1 BGB die Möglichkeit elektronische Abschriften zu verlangen. Im Gegensatz zu Art. 14 DS-GVO liegt beim Anspruch aus § 630g Abs. 1 BGB eine Holschuld des Patienten vor, die sich aus § 630 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 811 Abs. 1 S. 1 BGB ergibt.[4] Als Einschränkung gibt § 630g Abs. 1 Hs. 2 BGB vor, dass der Patient keinen Anspruch auf Einsicht hat, soweit der Einsichtnahme ehebliche therapeutische Gründe oder sonstige erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen.
Der entscheidende Unterschied der beiden Ansprüche wird bei der Frage nach den Kosten sichtbar. Gem. § 630g Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 811 Abs. 2 S. 1 BGB hat der Patient die Kosten für die Einsichtnahme zu tragen. Auch wenn er elektronische Abschriften verlangt, hat er nach § 630g Abs. 2 S. 2 BGB die Kosten zu erstatten. Grundlegend anders verhält es sich bei Art. 15 DS-GVO. Nach Art. 12 Abs. 5 S. 1 DS-GVO sind die Mitteilungen und Maßnahmen des Art. 15 unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Gem. Art. 15 Abs. 3 S. 2 DS-GVO muss die betroffene Person erst für die Kosten aller weiteren Kopien ein angemessenes Entgelt auf Grundlage der Verwaltungskosten aufkommen. Die erste Kopie ist also immer kostenfrei zur Verfügung zu stellen.[5] Nach wesentlichen Änderungen in den verarbeiteten Daten erscheint es aber plausibel, einen erneuten Anspruch auf eine erste kostenfreie Kopie zu gewähren.[6]
Hier gilt es nun zu klären, ob § 630g BGB lex specialis gegenüber Art. 12 und 15 DS-GVO ist und der Patient letztlich nicht um die Zahlungspflicht umherkommt. Im Grundsatz gilt die DS-GVO als EU-Verordnung seit dem 25.05.2018 unmittelbar gem. Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV. Folglich dürfen nationale Rechtsnormen im Kollisionsfall unabhängig davon, welche Norm zuerst da war, nicht mehr angewandt werden.[7] Hier dürfen die in Konkurrenz zur DS-GVO stehenden Vorschriften des § 630g BGB also nicht mehr angewendet werden; es dürfen keine Kosten erhoben werden. Der Argumentation folgte auch das Landgericht Dresden im Urteil vom 29.5.2020. § 630g BGB könne als nationale Rechtsvorschrift nicht lex specialis zu einer Vorschrift des Europarechts sein. Schließlich sehe die DS-GVO an dieser Stelle keine Öffnung für abweichende nationale Vorschriften vor.[8]
Wie bereits beschrieben, können die Ansprüche aus Art. 15 DS-GVO gem. Art. 23 Abs. 1 lit. i DS-GVO durch nationale Rechtsvorschriften beschränkt werden. Auf der einen Seite wird vertreten, dass auch bereits bestehende Einschränkungen von der Öffnungsvorschrift des Art. 23 DS-GVO umfasst werden.[9] Somit könnte man vertreten, dass die kostenfreie Akteneinsicht und Erteilung von Abschriften aus der Gesundheitsakte dazu führen könnte, dass die Verpflichteten wegen der zusätzlichen Belastung nicht mehr uneingeschränkt ihrer eigentlichen Behandlungspflicht nachkommen könnten. Damit wären die Rechte und Freiheiten anderer Personen (sowohl des Behandelnden als auch anderer Patienten) betroffen, sodass § 630g BGB gem. Art. 23 Abs. 1 lit. i DS-GVO Vorrang zu gewähren sei. [10] Die Übersendung einer Kopie der Patientenakte in elektronischer Form sei hingegen weniger zeitintensiv und könne nicht auf diese Argumentation gestützt werden.[11] Nach dieser Ansicht könnte auch die Einschränkung des Auskunftsanspruchs aus therapeutischen Gründen gem. § 630g Abs. 1 S. 1 BGB über die Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 lit. i DS-GVO aufrecht erhalten bleiben.[12] Der Anspruch aus Art. 15 Abs. 3 DS-GVO kann allerdings nicht auf Art. 15 Abs. 4 DS-GVO gestützt wegen therapeutischer Gründe ausgeschlossen werden, weil danach die Rechte und Freiheiten anderer Personen, also nicht die Interessen des betroffenen Patienten geschützt werden müssen.[13]
Auf der anderen Seite kann eine bestehende Vorschrift denklogisch nicht als auf der Öffnungsvorschrift des Art. 23 DS-GVO basierende Einschränkung verstanden werden. § 630g BGB wurde am 20. Februar 2013 erlassen, die DS-GVO ist erst am 25. Mai 2018 in Kraft getreten. Der Gesetzgeber konnte die Möglichkeit, die Ansprüche des Art. 15 DS-GVO einzuschränken also noch nicht kennen. Auch in den beiden Datenschutz- Anpassungs- und Umsetzungsgesetzen hat der deutsche Gesetzgeber darauf verzichtet, § 630g BGB an die DS-GVO anzupassen und die Möglichkeit der Öffnungsvorschrift zu nutzen. Auch die Bundesärztekammer weist auf den bestehenden Konflikt von Art. 15 DS-GVO und § 630g BGB hin und schlägt Änderungen im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) vor, um diesen zu lösen.[14] Dadurch sollen die Vorschriften des § 630g Abs. 1 und 2 BGB wieder zur Geltung kommen, was wiederum dafür spricht, dass diese Vorschriften nach der aktuellen Rechtslage hinter Art. 15 DS-GVO zurücktritt. Nach der vorzuziehenden Ansicht kann die Kostentragungspflicht des § 630g BGB also auch nicht über die Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 lit. i DS-GVO zum Tragen kommen. Vor dem Hintergrund des Vorrangs von Europarecht, lässt sich auch begründen, dass keine Kosten erhoben werden dürfen, wenn sich der Patient explizit auf § 630g BGB gestützt hat.[15] Auch können die Ansprüche des Art. 15 DS-GVO nicht wegen erheblicher therapeutischer Gründe gem. § 630g Abs. 1 Hs. 2 BGB beschränkt werden, weil § 630g BGB insgesamt nicht als Beschränkungsvorschrift infrage kommt.
E. Fazit
Solange der deutsche Gesetzgeber nicht tätig wird, bleibt die Vorschrift des § 630g BGB weitestgehend hinter der DS-GVO zurück. Die Vorschrift ist nur dann von Relevanz, wenn sie nicht mit Regelungen der DS-GVO kollidiert, wie etwa im Falle des postmortalen Einsichtsrechts des § 630g Abs. 3 BGB. Ansonsten geht das Europarecht vor und verdrängt die nationale Regelung des BGB. Auch über die Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 DS-GVO kommen die Regelungen des § 630g BGB nicht zu tragen, weil sie nicht als Einschränkungsvorschriften zur DS-GVO erlassen wurden. Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 15 Abs. 3 DS-GVO übernehmen die Funktion des § 630g BGB in weiten Teilen sehr patientenfreundlich. Der Patient hat einen Anspruch auf Übermittlung der Daten seiner Patientenakte, und zwar in einer für ihn verständlichen Weise und das kostenfrei.
[1] Gutmann, Staudinger BGB 2021, § 630g, Rn. 19.
[2] LG NJW-RR 2020, 1303, Rn. 18.
[3] Katzenmeier, BeckOK BGB 2021, § 630g, Rn. 24; Cornelius/Spitz, GesR 2019, 2, 71.
[4] Cornelius/Spitz, GesR 2019, 2, 73.
[5] Gutmann, Staudinger BGB 2021, § 630g, Rn. 10.
[6] Katzenmeier, BeckOK BGB 2021, § 630g, Rn. 25.
[7] Gutmann, Staudinger BGB 2021, § 630g, Rn. 11.
[8] LG NJW-RR 2020, 1303, Rn. 12; so auch Cornelius/Spitz, GesR 2019, 2, 73.
[9] Paal, DS-GVO BDSG 2021, Art. 23, Rn. 1.
[10] Wagner, MüKo BGB 2020, § 630g, Rn. 6.
[11] Ebd.
[12] Cornelius/Spitz, GesR 2019, 2, 73.
[13] Prütting/Friedrich, Reformbedarf des § 630g BGB, MedR 2021, 6, 525.
[14] Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Fragebogen des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat zur Evaluierung des BDSG vom 16.11.2020, Berlin, 11.01.2021.
[15] Gutmann, Staudinger BGB 2021, § 630g, Rn. 13.
Erstellt am 02.03.2022
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