Medizinische Notwendigkeit – Was ist das?
Im Bereich der privaten Krankenversicherungen ist gemäß § 1 Abs. 2 MB/KK 2009 die medizinische Notwendigkeit einer Heilbehandlung Voraussetzung dafür, dass der Leistungsfall eintritt. Doch wonach bestimmt sich, ob eine Heilbehandlung medizinisch notwendig ist? Der Begriff ist sehr unbestimmt und muss somit ausgelegt werden.
Zunächst kann es bei der Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit nicht auf eine subjektive Sichtweise von Patienten oder Behandlern ankommen. Stattdessen ist ein objektiver Maßstab anzuwenden, d.h. es sind nur objektive medizinische Befunde und Erkenntnisse maßgeblich.[1] Es können im Bereich der Erkenntnisse grundsätzlich auch solche Behandlungsmethoden berücksichtigt werden, die aus der alternativen Medizin stammen oder nicht durch die Schulmedizin anerkannt sind.[2] Im Zweifel lässt sich die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung also nur durch einen neutralen Sachverständigen feststellen.[3]
Außerdem erfolgt die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit stets aus der ex ante Sicht, entscheidend sind folglich die medizinisch anerkannten Behandlungsgrundsätze im Zeitpunk der Behandlungsdurchführung.[4] Sollte sich ex post herausstellen, dass die Behandlung nicht erfolgreich war, so ändert dies nichts an ihrer medizinischen Notwendigkeit im Zeitpunkt ex ante.
Eine medizinisch notwendige Heilbehandlung läge somit vor, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt der Behandlungsdurchführung vertretbar war, diese als notwendig anzusehen.[5]
In einer Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1996 baut dieser auf obiges Verständnis auf, indem er festhält, dass eine Behandlung im Allgemeinen als medizinisch notwendig gilt, wenn eine Behandlungsmethode zur Verfügung steht und angewandt worden ist, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken.[6] Bei Bestehen der medizinischen Geeignetheit trifft den Versicherer grundsätzlich auch eine Eintrittspflicht.[7]
Im Falle, dass gleich mehrere Behandlungsmethoden der Definition nach medizinisch geeignet sind, darf der Versicherungsnehmer eine wählen.[8] Es ist unzutreffend, dass in diesen Fällen zunächst die kostengünstigste Behandlungsmethode zu wählen sei und diese sich erst als erfolglos herausstellen müsste, bevor eine andere Behandlungsmethode gewählt werden darf.[9] Denn ein solcher Vorrang günstiger Behandlungsmethoden geht aus den Versicherungsbedingungen nicht hervor und auch sonst lässt sich für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer kein Maßstab erkennen, anhand dessen er die Subsidiarität bestimmter Heilbehandlungen gegenüber anderer Heilbehandlungen beurteilen könnte.[10] Ein solches Vorgehen wäre mithin unbillig.
Zudem kann es auch Fälle geben, in denen nicht ausschließlich auf die medizinische Geeignetheit einer Behandlung abgestellt werden darf. Denn eine geeignete Maßnahme muss nicht automatisch auch angemessen oder adäquat sein – was die Maßnahme dann ggf. nicht notwendig machen würde.[11] Dies ist insbesondere im Bereich der Zahnersatzbehandlungen der Fall.[12]
Grundsätzlich lassen sich mit den vom BGH entwickelten Definitionen bereits viele Probleme zur Frage, ob eine Behandlung medizinisch notwendig ist, zufriedenstellend lösen. Trotz alledem sind einzelne Fragen zur medizinischen Notwendigkeit in Literatur und Rechtsprechung bis heute sehr umstritten. Denn anders als bisher dargestellt wird auch die Ansicht vertreten, dass es grundsätzlich bereits immer dann an der medizinischen Notwendigkeit einer Behandlung fehlt, wenn eine günstigere Behandlungsmethode bereitsteht.[13] Es soll somit auch der finanzielle Aspekt zur Bewertung der medizinischen Notwendigkeit hinzutreten, was bereits dem Wortlaut „medizinisch notwendig“ zuwiderlaufen würde. Einer Ausuferung der finanziellen Eintrittspflicht des Versicherers kann nur indirekt im Rahmen der Angemessenheit und Adäquanz der Behandlungsmethode begegnet werden, wobei in diese Bewertung nur medizinische Würdigungen einfließen sollen. Des Weiteren wird teilweise vertreten, dass sich die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung unter anderem danach beurteilen lässt, ob die Behandlung nach dem sog. Stufenschema durchgeführt worden ist, wonach zunächst Basis-, dann Aufbau- und erst in besonderen Ausnahmen Spezialdiagnostik angewandt werden soll.[14] Dem ist entscheiden zu wiedersprechen, denn wie bereits oben ausgeführt geht ein Stufenverhältnis aus den Versicherungsbedingungen nicht hervor und die Anwendung eines solchen ist auch im Übrigen für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht ersichtlich. Diese Ansicht teilt auch das OLG Braunschweig in seinem Urteil vom 16.09.2020 – 11 U 122/18, das an die BGH Entscheidung des 4. Zivilsenats vom 29.03.2017 IV ZR 533/15 anschließt.
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[1] NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 11.
[2] NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 14.
[3] NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 11.
[4] NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 12.
[5] BGH, NJW 1979, 1250
[6] BGH, NJW 1996, 3074
[7] BGH, NJW 1996, 3074
[8] vgl. OLG Braunschweig, Urteil v. 6.09.2020 – 11 U 122/18; NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 13.
[9] NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 13; anders: OLG Köln Urteil v. 23.11.2012 – 20 U 96/10
[10] vgl. NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 13; OLG Braunschweig, Urteil v. 6.09.2020 – 11 U 122/18
[11] NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 13.
[12] vgl. NK-VersR/Staab VVG § 192 Rn. 13.
[13] vgl. Langheid/Wandt/Kalis VVG § 192 Rn. 23.; LG Aachen, Urteil v. 05.08.2005 – Z 5 S 16/05
[14] vgl. OLG Hamm Urteil v.12.06.1996 – 20 U 220/95; Langheid/Wandt/Kalis VVG § 192 Rn. 24; OLG Köln, Urteil v. 23.11.2012 – 20 U 96/10
Erstellt am 12.10.2023.
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